Stellungnahme der AGDF zur Denkschrift des Rates der EKD

 


Stellungnahme der AGDF zur Denkschrift des Rates der EKD
„Welt in Unordnung - Gerechter Friede im Blick
Evangelische Friedensethik angesichts neuer Herausforderungen“
Die neue Denkschrift knüpft an frühere Denkschriften von 1986 und 2007 sowie die friedensethischen
Erklärungen des Bundes der Ev. Kirchen in der DDR an. Mit Verweis auf neue Herausforderungen seit dem
völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine verändert sie zugleich das Konzept des
gerechten Friedens grundlegend. Ihr Ziel ist es, die aktuellen politischen Entscheidungen
friedensethisch zu reflektieren, die das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine betonen, für
Waffenlieferung plädieren und zu massiven Investitionen in die eigene Verteidigungsfähigkeit führen.
Die Denkschrift setzt dazu eine neue Priorität beim Schutz vor Gewalt, betont die Notwendigkeit
militärischen Handelns und unterschätzt die Möglichkeiten ziviler Konfliktbearbeitung.
Vom Primat der Gewaltfreiheit zur Priorität des (militärischen) Schutzes vor Gewalt
An vielen Stellen greift die Denkschrift auf Formulierungen zurück, mit denen sich die Denkschrift 2007
profiliert in den gesellschaftlichen Diskurs über den Frieden eingebracht hat: Mehrfach ist die Rede vom
„Primat des Gewaltverzichts.“ (3) Militärisches Handeln wird weiterhin nur als ‚ultima ratio‘ gesehen. Zwar darf
evangelische Friedensethik „das Militärische nicht pauschal ausklammern, muss es aber konsequent
friedensdienlich einhegen und zugleich zivile, präventive und auf Sicherheit und gesellschaftliche Resilienz
bedachte Kräfte stärken.“ (97)
Gegen Ende heißt es zwar noch einmal pointiert: „Kern evangelischer Friedensethik ist der Primat der
Gewaltfreiheit“ (182); im Gesamtduktus zeigt sich aber, dass die inhaltlichen Perspektiven neu ausgerichtet
werden. Ein Beispiel ist der Umgang mit dem Wort „kriegstüchtig“. Unter der Überschrift „Friedenstüchtigkeit
als Ziel“ wird der Begriff „Kriegstüchtigkeit“ problematisiert und im Sinne der „Versachlichung“ (113) betont,
dass „jede Verherrlichung des Kriegs oder des Militärischen“ indiskutabel ist (59). Auch wird darauf
hingewiesen, dass der Begriff gefährlich ist, weil Sprache „Einfluss auf unser Denken und Handeln“ (59) hat.
Zugleich schränkt die Denkschrift ihre Kritik aber ein und formuliert ganz im Sinn der aktuellen Politik: „Insofern
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Kriegstüchtigkeit auf die Bereitschaft zielt, die eigenen Werte auch unter Androhung und im äußersten Fall
unter Einsatz ethisch verantworteter Gewalt zu verteidigen, nimmt dieser Terminus ein Anliegen auf, das mit
der hier entwickelten Position vereinbar ist.“ (59)
Aufgrund der inhaltlichen Neuausrichtung der Denkschrift tritt die Bestimmung des gerechten Friedens in der
Denkschrift von 2007 als Doppelbewegung der Abnahme von Gewalt und der Zunahme von Gerechtigkeit in
den Hintergrund, die den Horizont der evangelischen Friedensethik in Richtung globaler Fragen und der
Ökumene geweitet hatte. Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine und der „Wucht“ (39) der dort
erlebten Gewalt rückt die Denkschrift unter den ethischen Kriterien, die zu informiertem Durchdenken der
gegenwärtigen Krisenerfahrungen anleiten sollen, nun den „Schutz vor Gewalt“ (40) ins Zentrum. Diese
Dimension des Friedens erhält eine „Sonderstellung“ (169); sie bildet das „grundlegende Gut“ (40), auf dem
die anderen Dimensionen ruhen, aber auch notwendig aufbauen müssen, damit gerechter Friede möglich
wird. Auch zwischen den drei übrigen Dimensionen gilt eine Rangfolge, insofern erst der „Schutz von
selbstbestimmter Freiheit … Gerechtigkeit und Pluralität … ermöglicht.“ (43)
Die Denkschrift hebt mehrfach hervor, wie wichtig es ist, dass militärisches und ziviles Handeln eng verbunden
und aufeinander abgestimmt sind; aktuell ist aber vor allem militärisches Handelns für einen wirksamen
Schutz vor Gewalt notwendig. Dieser Schutz vor Gewalt zielt darauf, 1. „Leib und Leben“ (47) der
Bevölkerung zu schützen, 2. die „territoriale Integrität“ (72) und 3. die „verteidigungswürdige“ (61)
demokratische Gesellschaftsform zu sichern. Es ist deutlich: Ist der Krieg einmal ausgebrochen, geraten die
drei Ziele in Konflikt, denn Menschen müssen ihr Leben riskieren, um die gesellschaftliche Ordnung zu
schützen, nationale, territoriale Interessen sind nicht identisch mit den Erwartungen der Menschen. (vgl. 23
und 156) Militärisches Handeln stößt hier schnell an seine Grenzen. Deshalb betonen die Sustainable
Development Goals, die den Schutz vor Gewalt ebenfalls als „Basalgut“ sehen, in SDG 16 die Bedeutung von
durchsetzbarem Recht und starken Institutionen, die Rechtsbrüchen widerstehen können.
Neubewertung des (internationalen) Rechts
In der Denkschrift findet sich eine deutliche Verschiebung im Blick auf die Bewertung der Bedeutung des
internationalen Rechts. Sie wehrt sich zwar gegen die „Arroganz der Macht“, setzt sich für die Wahrung und
Stärkung des internationalen Rechts ein und betont, dass „Sicherheitspolitik niemals ausschließlich auf
militärische Stärke setzen darf.“ (76) Geht es aber um die Sicherheit Deutschlands, wird klargestellt: „Die
offenkundige Missachtung der internationalen Rechtsordnung zeigt, dass Sicherheit nicht allein,
möglicherweise auch nicht vorrangig durch die Stabilisierung der internationalen Rechtsordnung erreicht
werden kann. Vielmehr ist die eigene sicherheitspolitische Resilienz, zu der auch die Verteidigungsfähigkeit
und die Abschreckungsfähigkeit gehören, neu zu bedenken.“ (161) Angesichts der vermeintlichen aktuellen
Bedrohung rückt die Denkschrift eine nationale, nicht einmal europäische Perspektive in den Vordergrund. „In
einer Zeit, in der sicherheitspolitische Ungewissheiten wieder stärker werden und die Verlässlichkeit
traditioneller Bündnispartner nicht mehr uneingeschränkt garantiert ist, gilt es, eigene Fähigkeiten zur Landes-
und Bündnisverteidigung substanziell auszubauen.“ (162)
Diese Fokussierung auf die eigene militärische Stärke schwächt das internationale Recht und die
internationalen Institutionen, die einzig in der Lage wären, die Macht und Gewalt der Stärkeren mit
dem Ziel einer globalen demokratischen Ordnung zu begrenzen. Schutz vor Gewalt wird zu einem
Privileg derjenigen, die sich mit Macht rüsten können. Nimmt die Denkschrift in Abschnitt 2.1.1. die
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fehlende öffentliche Aufmerksamkeit für die Schrecken der Kriege etwa in Afrika wahr, so taucht diese
Thematik in den Konsequenzen und Empfehlungen nicht mehr auf. Ein gerechter Friede ist aber national nicht
zu denken und schon gar nicht theologisch zu begründen; er bedarf der Diplomatie und der Verhandlungen
zwischen den Konfliktparteien, vertrauensbildender Maßnahmen und verbindlicher rechtlicher Regelungen.
Das Friedenshandeln von Christenmenschen und der unterschiedlichen Sozialgestalten von Kirchen
muss diese Einsicht unterstützen, wenn es Anteil an der Friedensbewegung Gottes haben will, die die
Mächtigen vom Thron stößt, die Niedrigen erhebt; die Gewalt bändigt, das Recht stärkt, Feindschaft
überwindet und die Menschenrechte schützt – nicht nur in unserem Land, sondern weltweit.
Überschätztes Militär
Auch wenn nicht bestritten werden soll, dass in spezifischen Konstellationen militärische Gewalt notwendig ist,
um eine Aggression durch Abschreckung zu verhindern oder frühzeitig abzuwehren, Menschenleben zu
schützen und ziviles Leben zu ermöglichen, zeigen viele Beispiele und nicht zuletzt der Afghanistaneinsatz die
Grenzen des militärischen Handelns. Es ist gut, dass die Denkschrift die neuen technischen Möglichkeiten und
das mit ihnen gewachsene Ausmaß an Zerstörung wahrnimmt, das sich mit modernen Kriegen wie in der
Ukraine verbindet; sie machen deutlich, dass militärisches Handeln immer schwieriger politisch einzuhegen ist.
Die Denkschrift ist jedoch darauf fokussiert, militärisches Handeln friedensethisch zu rehabilitieren.
Während sie im Abschnitt zur Klimagerechtigkeit festhält, dass eine Ausrichtung der Politik an nationaler
Stärke regional und global weder nachhaltig noch zukunftsfähig ist, überschätzt sie die Möglichkeiten
militärischen Handelns im Blick auf den Schutz vor Gewalt. Sie fragt nicht, was passiert, wenn Abschreckung
scheitert. Sie nimmt nicht in den Blick, dass eine Unterscheidung von zivilen und militärischen Zielen kaum
noch zu gewährleisten ist. Sie fordert eine Politik, die auf militärische Stärke baut, ihre eigenen
Machtinteressen aber gleichzeitig zurücknimmt. Sie weiß: Ob es um den Umgang mit den planetarischen
Grenzen, die Generationengerechtigkeit, die globale soziale Gerechtigkeit, die Stärkung der Demokratie oder
die Sicherung der Menschenrechte geht; alle Analysen zeigen, dass militärisches Handeln nur sehr
eingeschränkt zu deren Bearbeitung beitragen kann, die Probleme im Gegenteil oft verschärft.
Besonders deutlich wird das bei der Frage des präemptiven Einsatzes militärischer Gewalt gegen
Massenvernichtungswaffen des Feindes. In den Abschnitten 58, 146 und 147 sieht die Denkschrift zwar
das große „Missbrauchspotential“ und fordert „größtmögliche Zurückhaltung“ (147), hält aber am Ende einen
solchen Angriff zur „Verhinderung völkerrechtswidriger Bewaffnung“ (146) für legitim. Unter dieser
Perspektive lässt sich in einem eskalierenden Konflikt kein Einhalt mehr gebieten; die ethische
Argumentation wird bedeutungslos. Das zeigt sich auch bei der Frage der Atombewaffnung: Sie gilt der
Denkschrift als „ethisch in keiner Weise zu legitimieren“ (144), aber als „politisch notwendig“ (145). Hier
besteht nach Ansicht der Denkschrift ein Dilemma, das nur benannt, aber nicht gelöst werden kann, auch
wenn klar ist, dass die nukleare Abschreckung nicht zur Normalität werden darf, sondern überwunden werden
muss. Wie dies geschehen kann, welche Schritte dazu sinnvoll und nötig sind, welche Partner es gäbe, mit
denen Kirche hier wichtige Schritte gehen könnte, all das wird nicht konkretisiert.
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Geringschätzung der zivilen Konfliktbearbeitung
Statt die verschiedenen Akteure der Friedensbewegung differenziert wahrzunehmen, markiert die Denkschrift
sie mit dem gegenwärtig emotional aufgeladenen und polarisierenden Begriff des „Pazifismus des
kategorischen Gewaltverzichts“ (17). Sie würdigt diese Zugänge zum Frieden als individuelle
Gewissensentscheidung, Ausdruck gelebter Frömmigkeit und Beitrag zur individuellen und gesellschaftlichen
Orientierung. Ihre Bedeutung für die öffentliche ethische und politische Debatte schätzt die Denkschrift aber
gering ein, auch wenn sich in dem Text Formulierungen finden wie: „Angesichts des Primats der Gewaltfreiheit
müssen Praktiken ziviler Konfliktbearbeitung und zivilen Widerstandes gefördert werden.“ (191) Nirgendwo
wird erkennbar, dass die Denkschrift erwartet, dass solche zivilen Praktiken eine politische Dynamik entfalten.
Auch die vielfältigen anderen Mittel, die den Schutz vor Gewalt auf zivilem Weg sichern können: Prävention,
zivile Konfliktbearbeitung, Diplomatie, Verhandlungen, Dokumentation von Kriegsverbrechen, Bildung und
Stärkung der Zivilgesellschaft etc. werden in der Denkschrift erwähnt, von ihnen wird jedoch im Blick auf die
Gestaltung der politischen Entwicklung wenig erwartet.
Vielmehr wird die reale Praxis der zivilen und demokratischen Konfliktbearbeitung mit einer
rhetorischen Wendung als unrealistisch und unwirksam für die wirklich großen Konflikte und Kriege
qualifiziert: „selbst im Falle der besten Prävention und des entschiedensten Einsatzes von zivilen
Konfliktbearbeitungsmitteln.“ (19) Diese Aussage ist gewagt, weil es bisher keine entsprechenden
praktischen Erfahrungen mit intensiven Präventionsmaßnahmen im Vorfeld „großer Konflikte“ und einem
umfassenden Einsatz vorher bereits aufgebauter ziviler Konfliktbearbeitungsinstrumente gab. Stattdessen sind
nach dem (gewaltfreien) Ende des Ost-West-Konflikts in einer kurzen Phase, in der die in Militär und Rüstung
investierten Mittel zurückgingen, die Mittel für militärisches Handeln wieder kontinuierlich gewachsen,
Vereinbarungen zur Rüstungskontrolle wurden gekündigt und Institutionen des Konfliktmanagements wie die
OSZE oder die UNO geschwächt.
In der Denkschrift fließen die Erfahrungen der Fachorganisationen für Friedensforschung, zivile
Konfliktbearbeitung und Friedensbildung nicht ein, die hätten helfen können, Möglichkeiten und
Grenzen ziviler Konfliktbearbeitung in Konflikt- oder Kriegssituationen in den Blick zu nehmen. Viele
der Mitgliedsorganisationen der Aktionsgemeinschaft Dienst für den Frieden arbeiten seit Jahren in Kontexten
von Krieg und Bürgerkrieg und versuchen unter diesen Bedingungen, Menschen vor Gewalt zu schützen und
an einem nachhaltigen gerechten Frieden zu bauen. Sie berichten, wie wichtig und schwierig es ist, alle
Beteiligten in Konfliktkonstellationen dazu zu gewinnen, selbstbewusst für die verschiedenen Dimensionen
des Friedens Verantwortung zu übernehmen und einen zivilen Umgang mit Konflikten einzuüben. Sie können
berichten, wie sehr sich z.B. Prozesse, Praktiken und Organisationsformen der Vergangenheitsarbeit
(Transitional Justice) in den letzten Jahrzehnten in der Konfliktbearbeitung und in Versöhnungsprozessen
bewährt haben. Aber sie erleben und erleiden auch, wie zivile Konflikttransformationen an
Machtkonstellationen scheitern; dass Gewalt das, was sie aufgebaut haben, zunichtemacht; dass manchmal
nur rechtlich geordnete militärische Gewalt sie und ihre Vorhaben schützen kann. Aber dieses Scheitern stellt
nicht in Frage, dass Menschen auch anders, zivil, gewaltfrei miteinander Konflikte bearbeiten (können) – und
mittel- und langfristig müssen, wenn sie überleben wollen.
Die Denkschrift weiß, dass für eine Förderung von Wegen der zivilen Konfliktbearbeitung und der
sozialen Verteidigung erhebliche Ressourcen nötig sind; sie verzichtet aber darauf, diese in Beziehung
zu den Ausgaben für die aktuelle Aufrüstungsdynamik zu setzen und mehr Gelder für den Ausbau der
zivilen Konfliktbearbeitung zu fordern. Kirchen und andere Gruppen der Zivilgesellschaft sollten sich
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nicht nur innerstaatlich für den Rechtsstaat mit seinem Gewaltmonopol einsetzen, der die Würde der
Menschen der Willkür der Macht entzieht, sondern auch international Prozesse fordern und fördern,
durch die die Macht der einzelnen Staaten so beschränkt wird, dass sie keine völkerrechtswidrigen
Kriege mehr führen können. Ein solcher Blick nach vorne, Impulse für eine solche
Zukunftsperspektive fehlen in der Denkschrift. Von einer Kirche, die aus der Hoffnung lebt und Mut
machen will, werden dazu aber Aussagen erwartet: Mit welcher Perspektive, welchem „finis pax“ ist die
Denkschrift unterwegs? Wie soll eine europäische Friedensordnung aussehen, für die die Kirchen Europas
sich engagieren?
Hoffnung statt Kleinglaube
Im Gesamtduktus der Denkschrift bleibt ihr selbst gestecktes Ziel, „das Evangelium kritisch gegenüber
vermeintlichen Selbstverständlichkeiten zur Geltung zu bringen“ (2) auf der Strecke. Im Abschnitt 84 heißt es
zwar: „Aus ihrem eigenen Glauben heraus kann und muss die evangelische Kirche den Frieden auch mitten
im Konflikt bezeugen und alle Initiativen stärken, die eine eschatologische Wirklichkeit aufscheinen lassen“;
insgesamt aber dominiert in der Denkschrift das Interesse, sich auf sicherem, „politisch
realistischem“ Terrain zu bewegen. Alle Versuche von Christenmenschen und verschiedenen
Sozialgestalten von Kirche aus ihrem Glauben heraus zu einem gerechten Frieden, zu Entfeindung,
Verständigung und Versöhnung beizutragen, werden mit den Stichworten wie: „vorläufig, unfertig,
Vorletztes“ (32) klein geredet. Gottes Frieden wird als Ewiger Friede charakterisiert, der angesichts der
Sünde auf Erden nie zu erreichen ist. Dass er schon jetzt unter uns wirksam ist und in konkreten
Schritten Gestalt gewinnt, wird in den Hintergrund gedrängt.
Ein biblisches Beispiel für ein kritisches, produktives Gegenüber zu vermeintlichen Selbstverständlichkeiten
der Politik ist die Unterscheidung zwischen staatlicher Souveränität und menschlichen Überlebensinteressen
in der prophetischen Literatur der Bibel. Seit die Truppen des assyrischen Großreichs im 8. Jahrhundert v.
Chr. die Staaten der Levante überfielen, gab es in Israel prophetische Gruppen, die davor warnten, Sicherheit
durch Aufrüstung und Militärbündnisse zu gewinnen, weil die Katastrophe, die man verhindern wollte, dadurch
herbeigeführt würde. Die einzige Hoffnung, im Land überleben zu können, sehen diese Gruppierungen im
innenpolitischen Engagement für Gerechtigkeit. Hier hat – übertragen in die Überlegungen der Denkschrift –
Gerechtigkeit Vorrangstellung unter den Dimensionen des gerechten Friedens.
Diese prophetischen Interventionen sind – wie alle biblischen Texte – keine Handlungsanweisung für heute.
Aber sie schaffen Raum, politische Verantwortung, Parteinahme für die Menschen, die unter Gewalt leiden,
und Gewaltverzicht zusammen zu denken. Die bittere Erfahrung, die die biblische Überlieferung prägt, dass
auch verteidigende Gewalt zur Selbstzerstörung führen kann und geführt hat, darf – wenn es um das von der
Denkschrift intendierte kritische Durchdenken gegenwärtiger Krisenerfahrungen geht – nicht ausgeklammert
werden. Gerade angesichts der geplanten Großinvestitionen in Aufrüstung muss die Frage nach einer
Eskalation und den Folgen für alle anderen Lebensbereiche gestellt werden.
Zumal die Bergpredigt durch den Hinweis, dass es bei dem von Jesus gewiesenen Weg um die Erfüllung von
„Gesetz und Propheten“ geht (5,17; 7,12), Jesu Weg explizit mit den vorangegangenen prophetischen
Auseinandersetzungen verknüpft. Jesu Gewaltverzicht wurzelt in einer generationenübergreifenden
Suche nach nicht-militärischen Wegen des Überlebens angesichts imperialer Gewalt. Die Denkschrift
bezieht sich auf den Gewaltverzicht Jesu. Er wird als eine Quelle evangelischen Friedensverständnisses
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benannt (4, 11 u.ö.), doch er bleibt individuelle bzw. gruppenbezogene Gesinnung (17). Dass die Weisung,
angesichts der römischen Besatzungsmacht nicht zu den Waffen zu greifen, eine kluge politische Intervention
darstellt und als solche auch heute politische Herausforderungen beinhalten könnte, bleibt unbenannt.
Es ist der Denkschrift nicht vorzuwerfen, dass sie den russischen Angriff auf die Ukraine als den
Ausgangspunkt ihres Denkens hervorhebt. Im Gegenteil. In neuen Situationen müssen alte Antworten
überdacht werden. Alle ethisch-politischen Aussagen – auch biblische – sind kontextuell. Die Denkschrift geht
allerdings einen wesentlichen Schritt über eine konkrete Antwort auf die durch den russischen Angriff
entstandene Krisensituation hinaus. Der konkrete politische Kontext wird zum allgemeinen theologischen
Kontext. Der Titel „Welt in Unordnung“ ist nicht nur Angabe des politischen Kontextes, sondern wird
theologischer Rahmen der Überlegungen. Insofern verrät vielleicht schon der Titel der Denkschrift „Welt in
Unordnung – gerechter Friede im Blick“ die Mühe der Denkschrift mit der biblischen Grundentscheidung, den
Anfang, den Weg und das Ziel des Lebens durch Gottes schöpferisches Handeln und nicht durch „Welt in
Unordnung“ bestimmt zu sehen und bestimmen zu lassen.
Die vorrangige Gewichtung, die die Unordnung der Welt bekommt, spiegelt sich auch dort, wo der
theologische Begriff der Sünde als Mahnung erinnert wird, „die zerstörerischen Potenziale menschlichen
Handelns im Gedächtnis zu behalten“ (8), mit der Konsequenz, dass mit der Fähigkeit des Menschen zur
Gewalt immer zu rechnen ist und diese Gewalt mit Gegengewalt eingedämmt werden muss. Ohne zu
leugnen, dass die Erlösungsbedürftigkeit der Welt und die menschliche Sünde ernst genommen
werden müssen, stellt sich die Frage, was sich bei der Suche nach Antworten auf eine veränderte
Weltlage ändern würde, wenn bei der Entfaltung des theologischen Begriffs der Sünde auch die
„Sünde der Trägheit“ Gewicht bekäme, die die Kirche an ihren Unglauben erinnert.
Zudem wird das Begriffsfeld Sünde und Schuld vor allem formelhaft benutzt, um theologisch zu begründen,
dass bestimmte Ambivalenzen nicht in schwarz oder weiß aufgelöst werden können: „Der christliche Glaube
betont, dass es für den Menschen keine Möglichkeit gibt, dem Verhängnis von Schuldverstrickung und
Schuldigwerden durch eigenes Handeln zu entkommen. Er bleibt somit angewiesen auf Gottes befreiende
Zuwendung der Vergebung.“ (48) Oder im Blick auf die Frage der Atomwaffen: „Egal welche Option gewählt
wird, die Verantwortlichen machen sich schuldig.“ (These 6) Die Erkenntnis von Sünde und Schuld droht hier
zu einer Formel der Indifferenz zu werden; evangelische Friedensethik hat zu den konkret anstehenden
Fragen aber mehr zu sagen als: ‚Wie man’s macht, ist es verkehrt‘. Das zeigt die Denkschrift selbst am
Beispiel ihrer Stellungnahme zu autonomen Waffen. (102)
Die Denkschrift beschränkt sich in ihren geistlichen Impulsen auf das Individuelle: einzelne
Christenmenschen schärfen ihr Gewissen und nehmen ihre Friedensverantwortung im Gebet, im alltäglichen
Handeln und in politischer Verantwortung wahr. Gemeinden und (Landes-) Kirchen, Diakonie und Ökumene
sind aber auch Akteurinnen in der Öffentlichkeit. Sie sind handlungsfähig und können die Wirklichkeit
mitgestalten. Sie haben eine Hoffnung und einen Auftrag. Sie können konkrete Schritte gehen, damit ein
gerechter Frieden Gestalt gewinnt. Dazu wäre es wichtig gewesen, dass die Denkschrift deutlicher das
Vertrauen in die Friedenskraft Gottes stärkt, „die schon jetzt in der Welt wirksam ist“ (178) und
Einzelne, Gemeinden, Diakonie und Gesellschaft zu konkretem Engagement für einen gerechten
Frieden ermutigt.
Bonn, den 10. November 2025

 Siehe dazu auch: AGDF: Neues Buch sucht nach Wegen zum Frieden in konfliktreichen Zeiten

 

 

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